Lunedì lirico: Hilde Domin. Worte, Vögel und Granatäpfel
Einen Monat lang eintauchen ins Schreiben, mit vielen anderen wortwütigen Menschen verbinden und in Räumen der Begegnung, der Möglichkeiten und des Schaffens mit kraftvoll-spielerischer Leichtigkeit umherwandern: Genau so verbringe ich derzeit 4 Wochen im Übergang vom Winter zum Frühling beim Schreibmonat von, bei und mit Ricarda Kiel und Kathrin Bach. Was für eine einmalige Gelegenheit, eine Übergangsphase in meinem Leben zu gestalten. Ich fühle mich aktuell reich beschenkt und beflügelt.
Flügel sind ein gutes Stichwort, denn wer mich kennt, weiß, dass Vögel seit einiger Zeit eine Art Special Interest von mir sind. Sie beobachten, bewundern, ihnen lauschen, sie fotografieren, ihnen begegnen – das tue ich aktuell praktisch täglich mit größter Freude (#nerdalert). Und so war ich hellauf begeistert, als eine der Teilnehmer:innen des Schreibmonats Hilde Domin (1909-2006) seit langem mal wieder zurück auf meinen Radar brachte.
Hilde Domin – geborene Hildegard Dina Löwenstein, später verheiratete Palm – begeistert mich mit ihrer Lyrik, die bildhaft und klar, naturdurchtränkt und wortgewaltig ist und dabei ganz ohne Reime durch und durch poetisch auf mich wirkt. Ihre Frankfurter Poetik-Vorlesungen standen unter dem Titel “Das Gedicht als Augenblick von Freiheit“. Und genau so empfinde ich Domins Lyrik auch an vielen Stellen: bestärkend, ermutigend, hoffnungsschimmernd und beflügelnd – und das nicht nur, aber eben auch mit Vogel-Bezügen wie hier:
Nicht müde werden
Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten.
Ich möchte versinken in ihren einstrophigen Kurz-Verslern, die mit wenigen Worten bildhaft ganze Welten auftun. Und deshalb hat ein Domin-Gedicht, das im Schreibmonat geradezu an mir haften blieb, seinen Weg mit Farbe und Stift aufs Papier gefunden. Da kann es nun fröhlich vor sich hinflattern und mich jeden Tag aufs Neue an die Kraft der Worte und der Lyrik erinnern:
Überhaupt berühren mich Texte, in denen von Worten bzw. vom Schreiben die Rede ist, häufig auf eine eigene Art. Deshalb teile ich an dieser Stelle auch noch dieses Domin-Gedicht, das mich an ein Foto von einem bestimmten venezianischen Granatapfelbaum denken lässt, den ich mir unbedingt in natura noch anschauen möchte:
Worte
Worte sind reife Granatäpfel,
sie fallen zur Erde
und öffnen sich.
Es wird alles Innre nach außen gekehrt,
die Frucht stellt ihr Geheimnis bloß
und zeigt ihren Samen,
ein neues Geheimnis.
Übrigens: Wer es weniger spielerisch und dafür analytischer mag, kann hier u. a. auf S. 257ff. (nicht nur) das Vogel-Motiv in den Domin’schen Gedichten weiter ergründen. Und wer sich von Hilde Domins Lyrik ebenfalls geistig befruchten und beflügeln lassen möchte, findet im S. Fischer-Verlag auf knapp 350 Seiten Sämtliche Gedichte von ihr.