Nicole Seifert: „Einige Herren sagten etwas dazu“. Die Autorinnen der Gruppe 47
Gleich vorweg: Man muss weder einen Deutsch-Leistungskurs belegt noch Literaturwissenschaften studiert haben, um einfach und schnell Zugang zu Nicole Seiferts aktuellem Buch “Einige Herren sagten etwas dazu” zu bekommen, das vor Kurzem bei Kiepenheuer und Witsch erschienen ist. Genau genommen muss man noch nicht einmal zuvor von der Gruppe 47 näher gehört haben, diesem berühmten Zusammenschluss von Schreibenden in der Nachkriegszeit.
Literaturwissenschaftlerin, Autorin und Übersetzerin Nicole Seifert führt die Leser:innen Schritt für Schritt ein in die Welt der Literat:innen, die 1947 ursprünglich eine literaturkritische Zeitschrift ins Leben rufen wollten und bei deren Gründungstreffen schließlich die Gruppe 47 entstand. Deren Kopf: Schriftsteller Hans Werner Richter, Veranstalter der Tagungen und Chronist der Gruppe.
Auf den Tagungen wurden Texte gelesen, besprochen, diskutiert und schonungslos kritisiert. Danach wurde es in der Regel feucht-fröhlich und bisweilen grenzüberschreitend ausgelassen. Die Teilnehmer:innen wechselt von Mal zu Mal, ein fester Kern war recht konstant, dazu kamen – auf Einladung von Richter – verschiedene Autor:innen. Die Mehrheit der Gruppe 47 bildeten Männer (ca. 85% über alle Tagungen hinweg betrachtet), aber es waren von Beginn an auch Frauen von der Partie – und von ihnen, ihrer Literatur und dem Umgang damit erzählt Nicole Seifert in diesem Buch.
Die Autorin nimmt die Leser:innen mit hinein in die Welt der Gruppe 47, zu ihren Tagungen, in die Zeit zwischen 1947 und 1967 (und darüber hinaus) und zeichnet dank breiter und tiefer Recherche ein umfangreiches Bild der Gruppe und ihrer Mitglieder. Folgende Frauen stehen dabei im Zentrum des Buches (aufgelistet in der Reihenfolge, in denen sich ihnen die Kapitel widmen):
Ruth Rehmann
Ingrid Bachér
Ilse Schneider-Lengyel
Ilse Aichinger
Ingeborg Bachmann
Ingeborg Drewitz
Barbara König
Gabriele Wohmann
Gisela Elsner
Christine Koschel
Christa Reinig
Griseldis L. Fleming
Helga M. Novak
Elisabeth Borchers
Elisabeth Plessen
Barbara Frischmuth
Renate Rasp
Spannend ist dabei nicht nur, welche Frauen dabei waren, sondern auch, welche offenbar gar nicht erst in Betracht gezogen wurden (darunter bspw. Brigitte Reimann und Irmtraud Morgner), welche abgelehnt wurden (Christa Wolf) und welche in Frage kamen, aber keine Gelegenheit hatten, weil die geplante Tagung nicht mehr stattfand (Sarah Kirsch).
Die Leser:innen sind dabei, wenn Ruth Rehmann mit Siegfried Unseld im Fiat 500 durch die Landschaft düst, wenn Barbara König vor Aufregung ihren Text nicht selbst vor der Gruppe vortragen kann und sie sich später gegen nächtliche Übergriffe wehrt, indem sie kraftvolle Kratzer auf Männerwangen verteilt, und wenn Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann nach einer der Tagungen ungewollt mit im Bordell landen. Doch das Buch bietet darüber hinaus noch mehr Einblicke: der Kultur-/Literaturbetrieb der Nachkriegszeit in Deutschland (und Österreich) wird ebenso anschaulich geschildert wie das Frauenbild der Fünfziger und Sechziger Jahre.
Vor allem aber zeigt Nicole Seifert eindrücklich, was es hieß, sich in der Nachkriegszeit einen Namen als Autorin machen zu wollen. Die Frauen fanden sich durchgängig wieder in einem Geflecht aus Herabwürdigung, Objektifizierung, Verachtung, Übergriffigkeiten, Diffamierung, Dämonisierung und Mythisierung. All das wird anhand zahlreicher Belege und Zitate so deutlich, dass es beim Lesen aufwühlt. Die Anekdoten, Gespräche und Begegnungen, von denen Nicole Seiferts Recherche erzählt, haben keinen nüchtern-dokumentarischen Ton, sondern sind höchst lebendig beschrieben – fast so, als könnte man den Anwesenden nicht nur über die Schulter gucken, sondern neben ihnen stehen und speziell den Autorinnen tröstend die Hand reichen. Die männliche Macht und die patriarchalen Strukturen innerhalb der Gruppe 47 und auch innerhalb der Literaturkritik-Kreise sind teilweise wirklich schwer zu ertragen. Ich habe viel mit dem Kopf geschüttelt beim Lesen und die Stirn häufig ungläubig, zornig und empört in Falten gelegt. Nicole Seifert bietet eine Art von Unterhaltung, die nicht seicht dahinplätschert, sondern die heftig bewegt.
Die Informationsdichte ist so hoch, dass dieses Buch es mehr als wert ist, nicht nur einmal gelesen zu werden. Ist es trotzdem gut lesbar? Ja! Dabei hilft nicht nur die Sprachgewandtheit der Autorin und der klare, lebendige Stil. Auch die Struktur ist dem Lesevergnügen zuträglich. Das fängt beim Aufbau selbst an: Jeder Autorin der Gruppe 47 ist ein Kapitel im Umfang von ca. 25-30 gewidmet, vereinzelt teilen sich zwei bis drei Frauen ein Kapitel. So kann man sich das Buch auch häppchenweise einverleiben. Fotomaterial lockert zusätzlich auf. Jedes Kapitel startet mit einem starkem Opener, auf dem mit großer, hochkant gedruckter Jahreszahl nicht nur die zeitliche Einordnung erfolgt, sondern auf dem sich zwei Zitate jeweils inhaltlich stark gegenüberstehen: eins eines männlichen Gruppen-Mitglieds oder der Presse, darunter eins der jeweiligen Autorin, der sich das Kapitel widmet. Allein schon anhand dieser Gegenüberstellungen wird so viel ausgedrückt. Ein Beispiel aus dem Kapitel über Ilse Aichinger:
Die einzelnen Kapitel folgen wiederum ebenfalls einer klaren Struktur. Wir tauchen detailliert ein in die Biografien der einzelnen Frauen, begleiten sie anhand von Tagebuchaufzeichnungen und ähnlichem zu den Treffen mit der Gruppe, erfahren, wie ihre Texte aufgenommen wurden, welcher Kritik sie ausgesetzt waren und wie ihre Werke häufig in der Versenkung verschwunden sind. Wir erleben auch, wie ihre Texte im Literaturbetrieb insgesamt besprochen worden sind – und wie insbesondere Hans Werner Richter systematisch die Werke der Autorinnen und letztlich die Bedeutung der Frauen selbst aus der Geschichte der Gruppe 47 noch weit über die aktive Zeit der Gruppe hinaus förmlich ausradiert hat. Auch darüber, wie die Gruppe sich einerseits als antifaschistisch verstand, andererseits aber die literarische Aufarbeitung des Nationalsozialismus ebenso verbot wie die Aufnahme von Schreibenden mit Exil-Vergangenheit, wird ausführlich berichtet. All das passiert so anschaulich und spannungsvoll, dass ich beim Lesen bisweilen vergessen habe, dass es sich hier nicht um einen Krimi handelt.
Gleichzeitig weckt Nicole Seifert ungeheure Neugier auf all diese Frauen, ihre bewegten Biografien und in besonderem Maße auf ihre untergegangenen, vergessenen und wiederzuentdeckenden Werke. So möchte ich bspw. mehr erfahren über „Illusionen“ von Ruth Rehmann, „Die Welt der Maske“ von Ilse Schneider-Lengyel oder „Die Personenperson“ und „Schöner Tag, dieser 13.“ von Barbara König. Das umfangreiche Quellenverzeichnis lädt ein, vom Buch aus weiterzureisen in die Werke der vorgestellten Frauen.
Im letzten Kapitel wirft Nicole Seifert unter der Überschrift „Wie die Männer auf die Frauen schauten und die Frauen auf sich selbst“ auf nicht einmal 20 Seiten so präzise, klar und gleichzeitig vielschichtig einen Blick auf die „patriarchale Pantoffellosigkeit“ (wie Silvia Bovenschen darin zitiert wird), dass ich am Ende mit Tränen der Rührung, der Wut und des Bedauerns die Lektüre beendet habe. Ein gewaltiges Buch, das hoffentlich auch in Zukunft noch große Wellen schlagen und zahlreiche weitere Leser:innen finden wird.