Lunedì lirico: Kathrin Bach. Gips
Bücher, bei denen schon die ersten Seiten ein Gefühl davon vermitteln, dass die Lektüre innere Türen öffnet, die davor noch verschlossen oder zumindest angelehnt waren, sind mir die liebsten. Bei denen schnell klar wird: Hier wird meine weiche Seite genährt, hier öffnet sich mein Herz, hier begegne ich mir selbst im Spiegel der Sprache auf eine neue Weise.
Kathrin Bachs Lyrikband “Gips” ist so ein Buch für mich. Eines, das ich immer wieder zur Hand nehme, sodass sich die Coverseite inzwischen schon nach oben wellt. Ein Buch, das Fragen und Antworten gleichzeitig liefert. Eine Schatzkiste, erschienen in der Parasitenpresse. (Disclaimer: Kostenfreies Rezensionsexemplar, das ist hier also unbeauftragte Werbung.)
Fünf Abschnitte umfasst der Lyrikband, die jeweils ihre eigene Grundstimmung mitbringen. Fünf Gipsabdrücke, die sich in einzelnen Fragmenten über mehrere Seiten erstrecken, die erzählerisch miteinander verwoben sind, aber auch in Form einzelner Seiten wirkungsvoll sind.
Kathrin Bach formt ihren Gips mit einer Zartheit, die in ihrer Fragilität nichts Sentimentales hat. Feine Risse werden mit einer radikalen Rohheit bisweilen zu tiefen Abgründen. Detailreiche Beobachtungen der Außenwelt, die wie unter einem Brennglas eine Atempause zu machen scheint, verschmelzen mit Innenansichten zu einem Vielstoffgemisch, in dem der Mensch organisch in seine Umwelt eingegossen wird. Die enthaltenen Collagen der Autorin unterstreichen diesen Eindruck.
Die Stimmung der Gedichte ist dabei im besten Sinne merk-würdig. Mal blitzt spielerische Ausgelassenheit auf, die aber nur flüchtig ist und sich nicht greifen lässt. Ich musste an einen Dachboden denken: Manche der Passagen lesen sich für mich eher wie Sommersonnenstrahlen, in denen der Staub angewärmt und trocken tanzt. Doch es ist kein stabiles Heiterkeits-Sommerferiengefühl: Plötzlich ist es nur eine Zeile später eher der nächtliche, verwaiste Dachboden, in dem das kalte Mondlicht bizarre Schatten wirft und die Fantasie zwischen Innen und Außen ihre Brücken schlägt. Immer dabei in den Gips-Fragmenten: das Flüchtige, das Durchlässige. Die Texte erzählen von Bruchstellen, Rissen, Transformation, Splittern, vom Auf-dem-Sprung-sein. Aber auch: von Ahnungen, Möglichkeiten, Sehnsüchten und Träumen, von Hoffnung, Trost und Geborgenheit. Mit wuchtiger Klarheit in der Sprache lauern dabei für mein Empfinden immer wieder subtile Momente der existenziellen Erschütterung und ein lakonisches Entgleiten aus dem Gefühl der Stabilität in und zwischen den Zeilen.
am abend
kommt der nebel zurück
schmiert sich
als dicke schicht salbe
über den hof
heute ist die dämmerung weiß
dünner mull
mit dem mir jetzt jemand
die augen verbindet
In “Gips” wimmelt es von Ästen, Holz, Wald, Steinen und auch die Oma mäandert durch die Seiten. Besonders viel Freude habe ich daran, dass auch meine Vogelbibliothek dank Kathrin Zuwachs bekommt:
der vogelschwarm
hoch oben
als hätt ihn meine oma
in den himmel gestickt
Gips ist für mich ein Lyrikband, der vom Sich-Verorten in der Welt und dem Geflecht des Lebens erzählt – auf eine so leise und gleichzeitig eindringliche Weise, dass ich beim Lesen Ruhe und Aufruhr gleichzeitig empfinde. Meine lyrische Montags-Empfehlung für alle, die gern der Melodie von Zwischentönen lauschen (und wer mag, kann das am 16. Mai in der Brotfabrik in Berlin).