“Das Haus verlassen” von Jacqueline Kornmüller: Buchpremiere im Literaturhaus Berlin
Was ist das Lebensglück einer Illustratorin? Nun, Kat Menschik zufolge ist es die Möglichkeit, eigene Lieblingsbücher auszuwählen und illustrieren zu dürfen. Und so findet sich im Galiani-Verlag seit 2016 die Reihe “Illustrierte Lieblingsbücher“. Sie umfasst inzwischen 17 Titel und der jüngste Neuzugang ist „Das Haus verlassen“ – das literarische Debüt von Jacqueline Kornmüller.
Diese Woche wurde die Buchpremiere im Literaturhaus Berlin in Form einer Lesung mit Autorin und Illustratorin gefeiert, Maria-Christina Piwowarski hat moderierend durch den Abend geführt. Die Bezeichnung „Lesung“ wird dieser Veranstaltung jedoch nicht so richtig gerecht. Dazu gleich mehr; vorab lohnt sich zum Verständnis ein Blick auf den Hintergrund der Autorin.
Jacqueline Kornmüllers Welt ist die Bühne. Einst stand die gebürtige Garmisch-Partenkirchenerin als Schauspielerin selbst darauf, aktuell ist sie als Regisseurin in Wien tätig. Und so war es beeindruckend, aber gleichzeitig wenig verwunderlich, dass Jacqueline Kornmüller bei der Premiere das erste Kapitel aus ihrem Buch nicht im klassischen Sinne vorgelesen, sondern es aus dem Kopf rezitiert, ja geradezu aufgeführt hat, sodass ihre Worte und ihre Stimme die Anwesenden sogartig in diese außergewöhnliche Erzählung hineinholten.
„Das Haus verlassen“ erzählt mit autobiographischen Zügen von einer Protagonistin, die eben genau dies tun will: ihr eigenes Haus verlassen. Und das nicht, um mal eben ein paar Besorgungen oder einen Kurztrip übers Wochenende zu machen, sondern um es nach zehn gemeinsamen Jahren zu verkaufen und einen neuen Lebensabschnitt fernab der Einsamkeit zu beginnen. Den Dachboden, den Kamin, das merkwürdige Bad im Keller, den üppig bepflanzten Garten, den Esskastanienbaum, den angrenzenden Wald, der nachts herüberruft – all das will sie zurücklassen. Und so kommen sie auf eine Anzeige hin in Scharen: die „Immobilientouristen“ mit all ihren Wünschen, Sehnsüchten, Lebensmodellen, Familien und allerhand Ansprüchen.
Und das Haus? Nun, das ist alles andere als begeistert davon, verlassen zu werden. Also meldet es sich mit immer lauter werdender Stimme zu Wort – erst macht es noch alles mit (“ohne Murren und Klagen”), dann fängt es an zu zetern, später auch zu kreischen. Das Haus kommentiert, es mischt sich ein, es motzt, es trotzt, es jammert, es bockt, es ächzt, es leistet Widerstand. Das ist beim Lesen gleichermaßen unterhaltsam wie anrührend und auf sonderbare Weise fühlt es sich absolut natürlich an, wie es so im Zwiegespräch mit der Protagonistin ist. Die tiefe Verbindung zum eigenen Lebensort, der so viel mehr als nur Wohnraum sein kann, ist ab der ersten Seite spürbar. Die Poetik des Textes ergibt sich häufig aus dem, was zwischen den Zeilen gesagt wird. Die Szenen sind unaufgeregt und gleichzeitig in ihrer Lebendigkeit und kleinen, feinen Details so intensiv, dass man als Leser:in so sehr mitfühlen kann – mit der Protagonistin, aber auch mit dem Haus-Protagonisten.
Zeitlose Fragen wie die danach, wie man wohnen, leben und altwerden will, werden flankiert von aktuellen Themen: die politische Lage und ihre Symptome im ländlichen Raum oder die Auswirkungen der Pandemie sind zwei davon. Sie alle fügen sich höchst organisch in diese moderne Novelle ein. Nebenbei stirbt auch noch die Queen (und das ist gar nicht mal so unwichtig).
Was hat Kat Menschik nun eigentlich dazu bewogen, genau mit diesem Werk „ihre“ Reihe im Galiani-Verlag fortzusetzen? Das wollte natürlich bei der Buchpremiere nicht nur Maria-Christina Piwowarski im Rahmen ihrer spritzigen, federleichten Moderation im Laufe des Abends wissen. Interessanterweise war es ein anderes Werk aus der Reihe Kat Menschiks, welches sie und Jacqueline Kornmüller zusammenführte. Letztere inszenierte in Wien Haruki Murakamis „Die Unheimliche Bibliothek“ und fragte Kat Menschik um Erlaubnis, zwei ihrer Illustrationen für die Inszenierung nutzen zu dürfen. So kamen die beiden miteinander in Kontakt und Kat Menschik fuhr schließlich zur Premiere des Stücks in Wien, wo sie feststellen durfte, dass ihre Illustrationen selbst auf der Bühne dank der Schauspieler:innen auf spezielle Weise lebendig wurden. So war es Murakamis Text, der nicht nur ins Deutsche übersetzt worden ist, sondern sowohl in Form der Illustrationen als auch wiederum auf der Theaterbühne in Wien praktisch weitere Formen der darstellenden Übersetzung gefunden hat. Kat Menschik erzählte, dass sie sofort gespürt hat, dass Jacqueline Kornmüller und sie „gleichen Geistes“ seien; der Grundstein für eine Freundschaft war gelegt. Schließlich kam es also zur Zusammenarbeit in Form des Buches, von der die Autorin selbst wiederum bei der Buchpremiere sagte: „Es hätte keine bessere Regisseurin geben können als Kat.“
In der Tat, Kat Menschik nimmt die Leser:innen illustratorisch kraftvoll und lebendig mit hinein in das Haus und seine Umgebung. Allein schon das Cover ist eine visuelle Entdeckungsreise, das immer mehr Details enthüllt, je länger man es betrachtet. Ein bisschen wie das Haus selbst, das nach und nach seine Geschichten erzählt. Besonders angetan haben es mir all die Illustrationen mit Szenerien aus Garten und Grundstück, die in kräftigen Farben von Frühling und Sommer, freudvoller Fülle der Natur und Liebe am Hegen und Pflegen des eigenen Zuhauses erzählen. Eines der Motive ist oben als Postkarte zu sehen.
Kat Menschik hat selbst übrigens auch kapitelweise bei der Buchpremiere gelesen – auf genauso energetische, schillernde Art, wie sie illustriert. Besonders schön war es, dabei das Funkeln in den Augen der Autorin zu beobachten. So sieht wahre Verbundenheit aus, dachte ich. Gemeinsam mit Maria-Christina Piwowarski war im Literaturhaus ein Trio zu erleben, das ganz viel gegenseitige weibliche Wertschätzung sicht- und spürbar gemacht hat. Starke Frauenbande.
Gesprochen haben die Drei nicht nur über die Geschichte selbst, sondern auch über die Prozesse dahinter. Wo wird geschrieben und illustriert, unter welchen Bedingungen arbeitet es sich individuell am besten? Antworten auf diese und viele weitere Fragen rundeten die Lesung ab – die Aufzeichnung davon gibt es hier. Darin sind auch zahlreiche der Illustrationen in animierter Form zu sehen, die die Buchpremiere visuell ebenfalls zu einem Highlight gemacht haben.
Ob die Protagonistin sich letztendlich tatsächlich von ihrem charakterstarken Haus trennen kann? Das sei an dieser Stelle natürlich unter gar keinen Umständen verraten. Um das zu erfahren, heißt es: kaufen, Buchdeckel aufschlagen, die Goldrandprägung der Seiten bewundern und eintauchen in dieses rundum gelungene Debüt, das auf knapp 90 Seiten mit haptisch feinstem Papier und äußerst angenehmer Typografie nicht nur inhaltlich, sondern auch gestalterisch größtes Lesevergnügen bereitet.